Innovation oder Problem 2.0?

Innovation oder Problem 2.0?

Tiroler Nachrichten, Nummer 274 vom Montag, 4. Oktober 2021

Plastik auf Erdölbasis strapaziert die Umwelt. Umso erstrebensewerter klingt Bioplastik.
Doch mausert sich Kunststoff aus Algen, Bambus und Co. zurecht zur grünen Alternative?

Von Judith Sam

Innsbruck – Kaum 70 Jahre ist es her, dass Plastik als alchemistische Attraktion galt: Aus Erdöl ließen sich Gegenstände formen, die zuvor undenkbar waren: ebenso weich wie stabil, unverwüstlich wie flexibel. Heute hat das Material ein Imageproblem – werden doch 400 Millionen Tonnen jährlich weltweit hergestellt, von denen allein 500.000 in den Meeren landen. Wie verführerisch klingt da der Gedanke alternativ Geschirr aus Bambus, Müllsäcke aus Maisstärke und Planen aus Zuckerrohr herzustellen.

„Je nach Dicke des Materials kann es in Kompostieranlagen in wenigen Wochen abgebaut werden.“
Christoph Glammert
(CEO des Startups Biofibre)

In der Theorie. „In der Praxis können viele dieser Produkte ihre vollmundigen Versprechungen nicht halten“, desillusioniert Birgit Schiller. Die Projektleiterin des Vereins für Konsumenteninformation (vki.com) hat Kindergeschirr mit Bambusanteil getestet – mit vernichtendem Ergebnis: „Neun von neun Produkten fielen durch.“
Allem voran würde mit dem Begriff Bioplastik getrickst: „Denn der ist nicht geschützt.“ So kann es nachwachsende Stoffe wie Mais und Kartoffeln enthalten – doch auch Erdölanteile sind möglich. Zudem sollte Bioplastik biologisch abbaubar sein, muss es aber nicht.
Damit nicht genug des Irreführens: „Das Bambusgeschirr wirbt damit stabiler zu sein als Porzellan, sodass Kinder sich daran nicht schneiden.“ Der Praxistest zeigt jedoch, dass bereits nach einem Sturz aus Tischhöhe Risse entstanden. Noch fataler seien die Inhaltsstoffe: „Wird etwas Heißes eingefüllt, treten ebenso Melamin wie Formaldehyd aus.“ Ersteres steht im Verdacht Erkrankungen im Blasen- und Nierensystem zu verursachen. Zweiteres gilt als krebserregend.
Da drängt sich die Frage auf, warum diese großteils chinesischen Waren importiert werden durften: „An der EU-Grenze muss nur belegt werden, dass gewisse Testkriterien eingehalten werden. Die sind sehr sanft und zeigen etwa nicht, wie sich ein paar Minuten in der Mikrowelle auf das Plastik auswirken.“
Kein Wunder, dass Bambusfasern laut EU-Kunststoffverordnung nicht für Lebensmittelplastik geeignet sind. Anders sei das bei Polyethylen aus Zuckerrohr. Während des Wachstums dieser Pflanzen wird zudem CO2 gebunden. So stecken laut Herstellern in jedem Kilo dieses Bioplastiks drei Kilo Kohlendioxid.
Auch Plastik, vermischt mit Holzbestandteilen, erfreut sich stetig größerer Beliebtheit. Viele daraus gefertigte Mulchfolien gelten als abbaubar, ohne im Boden Rückstände zu hinterlassen. Weil Holzfaser-Polymer-Gemische zudem laut EU im Lebensmittelsektor zugelassen sind, entschied sich das Unternehmen Biofibre aus Altdorf bei München Granulat daraus herzustellen.
„Daraus können Kunden nach Belieben Produkte wie Besteck, Schreibwaren oder Planen herstellen. Je nach Dicke des Materials verrottet es in Kompostieranlagen bei rund 50 Grad in wenigen Wochen. Die enthaltenen Holzfasern dienen als Einfallstor für Flüssigkeit, was den Abbauprozess anregt“, schildert CEO Christoph Glammert.
Seine Kunden akzeptieren den im Vergleich zu konventionellem Kunststoff doppelt so hohen Preis: „Weil sie CO2 einsparen oder ihre Produkte optisch abheben wollen.“ Zudem zeichnet sich ein Trend ab weniger, bzw. „grüneren Müll“, zu produzieren: „Manche Kunden verteilen auf Messen nur Bioplastik-Kugelschreiber. Wenn diese typischen Werbegeschenke schon rasch im Müll landen, sollen sie die Umwelt wenigstens nicht belasten.“

„Wir verarbeiten Chicorée-Rüben und Stroh zu Bioplastik. Beides ist Abfall in der Lebensmittelproduktion.“
Andrea Kruse
(Chemikerin)

An der Stuttgarter Universität Hohenheim forscht Andrea Kruse an unkonventionelleren Bioplastik-Rohstoffen wie Chicorée-Rüben und Stroh: „In beiden Fällen werden durch die Kunststoffproduktion keine Lebensmittel vergeudet. Während man Chicorée-Salat und Weizenkörner isst, gelten die Rüben und Stroh als Abfallprodukt.“
Gütesiegel, an denen sich umweltbewußte Kunden orientieren können, gebe es nicht. Die Chemikerin rät sich stattdessen an der Unterscheidung von Duro- und Thermoplast zu orientieren: „Die Kunststoffvariante namens Thermoplast lässt sich in erwärmtem Zustand verformen und ist daher recyclebar.“ Damit sei sie umweltschonender als Duroplast: „Dabei handelt es sich um Kunststoff, der beim Erhitzen aushärtet und daher nicht wiederverwertet, sondern nur verbrannt werden kann.“
Diese Verbrennung sei zwar recht CO2-neutral, die Umwelt würde trotzdem strapaziert, weil beim Anbau von Pflanzen und der Herstellung des Kunststoffs viel Energie und Wasser benötigt wird. So gilt auch bei Bioplastik das altbackene Credo: „Je länger ein Produkt daraus genutzt wird, desto mehr profitiert die Umwelt.“

Ein Blick hinter die Kulissen von Bioplastik

Um Bio-Kunststoffe herzustellen werden Milchsäure-Bakterien mit einer Art Zucker gefüttert. Der kann aus Reststoffen der Landwirtschaft gewonnen werden. Das daraus entstandene Bioplastik kann ebenso nur biobasiert, sowie nur biologisch abbaubar oder beides sein.

Biobasiert bedeutet, dass es aus Biomasse (wie Stärke) oder Biopolymeren (wie Algen) besteht. Es ist nicht immer recyclebar und kann Harze beinhalten. Biologisch abbaubar ist Bioplastik, wenn es sich zu mindestens 80 Prozent zersetzt. Manchmal dauert dieser Vorgang im Komposthaufen jedoch deutlich länger, als bei konventionellem Bioabfall. Darum raten Experten Bioplastik nicht im Bio-Hausmüll, sondern in Industrie-Kompostieranlagen zu verwerten.

Im Jahr 2020 wurden 46 Prozent der Biokunststoffe in Asien produziert. Im Bereich Forschung dominiert Europa. Mit 47 Prozent sind Verpackungen das größte Anwendungsfeld des globalen Bioplastikmarktes.

Bioplastik-Rezept: 1 EL Stärke, 1 TL Essig, 4 EL Wasser und 1 TL Glycerin (aus der Apotheke) werden in einem Topf bei mittlerer Hitze, unter ständigem Rühren, erhitzt. Nach 10 Minuten, wenn die Substanz glasig wird, gilt es damit ein altes Stück Stoff zu tränken. Daraus kann man
Formen kneten, die nach rund 24 Stunden ausgehärtet sind.

 

Das Gewissen entscheidet

Von Judith Sam

Wie gerne lassen wir uns von Gefühlen statt von Fakten leiten. So nagt das schlechte Gewissen weniger an Kunden, wenn die in der Öko-Ecke des Supermarkts die monoton braune Schachtel mit Bioplastik-Geschirr wählen, statt der quirlig bedruckten Kunststoffteller der Kinderabteilung. Ein Trugschluss? Bei der Frage, ob sich „grünes Plastik“ rühmen darf nachhaltiger zu sein als die Erdöl-Alternative, scheiden sich die Experten-Meinungen.
Klar ist, dass nur ein Prozent des gesamten Kunststoffs ausnachwachsenden Rohstoffen hergestellt wird. Für deren Anbau werden laut European Bioplastics 0,015 Prozent der globalen Agrarfläche verwendet. Das Argument, Bioplastik konkurriere mit der Lebensmittelproduktion, und intensiviere bei steigendem Bedarf den Welthunger, ist somit kaum haltbar. Ein Punkt für Bioplastik. Doch es gilt auf Details zu achten. So verurteilen Kunden laut Studie des deutschen nova-Instituts Kunststoff auf Erdölbasis als Meerestier-Killer. Bioplastik aus dem ach so biologischen Bambus wirke hingegen natürlich und gesund. Dabei widersprechen Tests dieser Intuition.
Wer auf Nummer sicher gehen will, muss den Lebenszyklus eines Produkts beachten – samt Energieverbrauch bei der Herstellung, Ressourcen-Ursprung und Entsorgungsaufwand. Das dürfte Kunden überfordern, sodass sie wieder zum Produkt greifen, das dem Gewissen schmeichelt. Aber warum eigentlich nicht? Besser Plastikalternativen reifen in kleinen Schritten, als dass die Arbeit daran stagniert.